Manière Noire Lithographien von David O’Kane
zum 350-sten Geburtstag von Jonathan Swift
23. März—13. April 2017

Splendide mendax—verba volant, scripta manent
Von Leo Damrosch, Harvard University
Autor von Jonathan Swift: His Life and His World [2013]

Das Werk einiger weniger Schriftsteller ist so unverwechselbar, dass ihre Namen zu Eigenschaftsworten wurden, zum Beispiel »homerisch« und »kafkaesk«. Aus den beißend ironischen Satiren Jonathan Swifts leitet sich das englische Wort »Swiftian« ab; es verweist nicht nur auf satirischen Zorneseifer, sondern ebenso auf eine tiefe Trauer über die Grausamkeit, mit der Menschen einander behandeln.

Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche begabte Illustratoren an anschaulichen Interpretationen zu Swifts längster Satire versucht, dem unvergänglichen Werk Gullivers Reisen. Dieser Pseudoroman steckt voller Figuren und Episoden, die sich leicht visualisieren lassen. Swifts kürzeste Satire Ein Bescheidener Vorschlag, ebenso unvergänglich, bietet sich für die Illustrierung deutlich weniger an. David O’Kane hat es auf brillante Weise geschafft, ihre imaginative Kraft und moralische Entrüstung zu veranschaulichen.

Zu Swifts 350. Geburtstag im Jahr 2017 gab Jamie Murphy von The Salvage Press bei O’Kane Lithografien für eine limitierte Edition in Auftrag. Dieser kunstvolle Nachdruck von Ein Bescheidener Vorschlag führt einen Dialog mit O’Kanes bildlichen Darstellungen über die Zeiten hinweg. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Steindrucker und dem Künstler zeigt sich in der Abbildung von Murphys Kindern Olivia und Joshua auf vier der zehn Grafiken. Für A Child, Just Dropt verwendete O’Kane das erste Foto der neugeborenen Olivia als Vorlage. Auf Butchers... Will Not Be Wanting sieht man einen in einer Metzgerei hängenden Säugling; dafür wurden Zeichnungen von Joshua und von Achilles nach einer Plastik von Thomas Banks aus dem späten 18. Jahrhundert kombiniert. Stewed, Roasted, Baked or Boyled, Food... Proper for Landlords zeigt drei Säuglinge auf Silbertabletts und basiert ebenfalls auf Fotos von Olivia. A Melancholy Object schließlich wurde durch Röntgenbilder Joshuas aus dem Krankenhaus inspiriert. Murphy beschreibt O’Kanes Lithographien als »Kommentar zum Zustand des heutigen Irlands und zu der Tatsache, dass meine Kinder die neuen Verwalter der Staatsschulden sind, die von einer früheren Generation angehäuft wurden«.

Anders als Schottland, das im Jahr 1707 zu einem vollwertigen Mitglied des Vereinigten Königreichs wurde, betrachtete man Irland nach wie vor als bloße Kolonie, die sich von der britischen Regierung und im Ausland lebenden habgierigen Grundbesitzern auf bequeme Weise ausbeuten ließ. In den 20er-Jahren des 18. Jahrhunderts wurde die Lage besonders kritisch, als sich infolge einer Reihe von Missernten eine Hungersnot ausbreitete. Swift, damals Dekan der Kathedrale zum Heiligen Patrick in Dublin, wurde als Fürsprecher des irischen Volkes zutiefst bewundert. In jenem Jahrzehnt publizierte er mehrere Streitschriften, in denen er Mittel und Wege gegen die Ausbeutung durch England aufzeigte. Diese bewirkten jedoch so wenig, dass er vom Versagen seiner Landsleute beim Widerstand gegen die Unterdrückung angewidert war. Ein Bescheidener Vorschlag wurde 1729 veröffentlicht und ist eine parodistische ökonomische Abhandlung, in der Swift als bestmögliche Lösung die Zubereitung und den Verzehr irischer Kleinkinder vorschlägt. Es wird impliziert, dass die Grundbesitzer die Iren metaphorisch betrachtet ohnehin verschlängen und man dies ebenso gut auch im wahren Wortsinne tun könne.

Was diese Satire so gelungen macht, ist die unfassbar empfindungslose Verkörperung eines wohlmeinenden ökonomischen Vordenkers. Wie unzählige andere in dieser Zeit wurde das Werk als billiges anonymes Pamphlet verbreitet, und etwa eine Seite lang konnte man als Leser tatsächlich annehmen, es handele sich um eine ernst gemeinte und fundierte Abhandlung. Erst dann lässt Swift die Falle zuschnappen und beschreibt die entsetzlichsten Grausamkeiten und Kannibalismus als sinnvolle Maßnahmen zur Abmilderung der Not in Irland. Sollte der Verfasser dieser Argumentation das Gesagte tatsächlich meinen, wäre er vollkommen wahnsinnig. Aber schnell wird klar, dass er nur ein Sprachrohr für die moralische Empörung des eigentlichen Autors Jonathan Swift ist.

A Child, Just Dropt [Ein soeben geworfenes Kind [1]] 
In der Sprache eines Viehzüchters erläutert der Verfasser des Bescheidenen Vorschlags als objektiver Ökonom, dass ein Neugeborenes im ersten Lebensjahr ausschließlich mit Muttermilch ernährt werden könne und anschließend zum Verzehr bereit sei.

Learning to Love Our Country [Lernen, unser Vaterland zu lieben]
Swift suggeriert, die Iren seien geradezu einmalig darin, ihrem Land keine wahre Liebe erweisen zu können; diese Liebe sollte darin ihren Ausdruck finden, dass sie für ihre Rechte einträten. Eine Art, dies zu tun, sei es, englische Waren zu boykottieren und sich von ihnen unabhängig zu machen, statt weiterhin als Rohstoffquelle für England zu dienen und englische Grundbesitzer reich zu machen. Bei den auf der Landkarte hervorgehobenen Namen handelt es sich ausschließlich um Orte, an denen Swift längere Zeit lebte: Geboren wurde er in Dublin und ging in Kilkenny zur Schule, bevor er für den Besuch des Trinity College nach Dublin zurückkehrte. Seine erste Gemeinde nach der Ordination war das kleine Dorf Kilroot bei Belfast und sein bevorzugtes Refugium auf dem Lande befand sich in der Kleinstadt Laracor. Die Symbole in den Ecken der Umrandung stammen von den Bodenfliesen rund um Swifts Grab in der Dubliner Kathedrale zum Heiligen Patrick.

Beggars of the Female Sex
[Bettlerinnen]
Die ersten Zeilen von Ein Bescheidener Vorschlag lauten: »Es ist ein trauriger Anblick für diejenigen, die durch unsere große Stadt gehen oder über Land reisen, wenn sie sehen, wie die Straßen, die Wege und die Eingänge zu den Hütten von Bettlerinnen wimmeln, die, umgeben von drei, vier oder sechs völlig zerlumpten Kindern, jeden Passanten um ein Almosen angehen«. Das entsprach buchstäblich der Wahrheit. In Dublin ebenso wie auf dem Lande füllten hungernde Frauen mit in Lumpen gekleideten Kindern die Straßen.

The Deanry Stairwell
[Die Treppe der Dekanei]
Die flehenden Hände der Bettler sind zwischen den Pfosten des Treppengeländers in Swifts Dekanei zu sehen. Stets trug er Münzen unterschiedlichen Werts bei sich und versäumte nie, jedem Bettler, dem er auf der Straße begegnete, etwas zu geben. Außerdem war er ein früher Befürworter regelmäßiger Leibesertüchtigung und lief aus Gesundheitsgründen oft die Stufen auf und ab [allerdings wurde die damalige Treppe beim Wiederaufbau der Dekanei nach einem Brand durch eine andere ersetzt].

The Constant Breeders
[Diejenigen, die ständig Nachkommenschaft hervorbringen]
Mütter von Kindern, die zum Verkauf und zur Ernährung bestimmt sind, bezeichnet Swift als brauchbare »Zuchtweiber[2]«, so, wie man auch von Rindern oder Schafen reden würde. Um die Versorgung auch in der Zukunft zu gewährleisten, müssen einige Kinder am Leben bleiben. Der Verfasser errechnet, dass man ein Sechstel von ihnen aufwachsen lassen und ihrerseits als Zuchtobjekte einsetzen sollte – Mädchen und Jungen im Verhältnis drei zu eins.

Butchers... Will Not Be Wanting
[An Metzgern dürfte es... nicht fehlen]
Spezielle Schlachthäuser für Kleinkinder werden eingerichtet: »An Metzgern dürfte es aller Voraussicht nach nicht fehlen, obwohl ich eher anrate, die Kinder lebend zu kaufen und sie noch warm nach dem Schlachten zuzubereiten, wie wir es mit Spanferkeln machen«.

Stewed, Roasted, Baked or Boyled, Food... Proper for Landlords [Geschmort, gebraten, gebacken oder gekocht... für Grundbesitzer besonders geeignet]
Verschiedene Zubereitungsarten für Kinder werden betrachtet: »Ein Kind reicht für zwei Gerichte zur Bewirtung lieber Gäste, und wenn die Familie allein speist, so ergibt ein Vorder- oder Hinterviertel ein annehmbares Gericht; mit etwas Pfeffer oder Salz gewürzt, wird es gekocht noch am vierten Tag sehr gut schmecken, besonders im Winter«. Da dieses Erzeugnis teuer sein wird, ist es »für Grundbesitzer besonders geeignet, denn da sie bereits die meisten Eltern verschlungen haben, steht ihnen gewiß auch das erste Anrecht auf die Kinder zu«. Diese Komposition beruht auf O’Kanes Fotografien von Swifts Speisezimmer in der Dekanei. Am Ende des dortigen Esstisches hängt ein riesiges Gemälde von Swift und einer Putte in einem mit prachtvollen Schnitzereien verzierten Rahmen. Das Bild stammt von Francis Bindon, der Rahmen von John Houghton. Sowohl das Gemälde als auch der Rahmen entstanden zu Lebzeiten Swifts, wahrscheinlich 1739, kurz bevor ihn eine schwere Demenzerkrankung handlungsunfähig machte. Wie schon bei The Deanry Stairwell wurde das Gemälde in eine Art schwarzen Spiegel verwandelt.

Gloves for Ladies and Summer Boots for Fine Gentlemen [Handschuhe für die Damen und Sommerstiefel für feine Herren]

Ein weiterer wirtschaftlicher Vorteil liegt darin, dass sich die zarte Kinderhaut gut zur Herstellung teurer Handschuhe und Stiefel eignet. Swift denkt dabei an den Konsum englischer Luxusgüter durch die irische Oberschicht, die so zum Komplizen bei ihrer eigenen Ausbeutung wurde.

A Melancholy Object [Ein trauriger Anblick]
Es geht zurück zu den ersten Zeilen des Bescheidenen Vorschlags. Wieder greift die kunstvolle Umrandung der Röntgenaufnahme des Kindes leicht abgewandelt den Rahmen im Speisezimmer von Swifts Dekanei auf, der – ohne das Röntgenbild – auch im Hintergrund von Stewed, Roasted, Baked or Boyled, Food... Proper for Landlords zu sehen ist.

Splendide mendax – verba volant, scripta manent

Ein Zitat des römischen Dichters Horaz. »Splendide mendax« bedeutet »edler Lügner« oder faktisch, für eine gute Sache unehrlich zu sein. In der Gulliver-Ausgabe von 1735 standen diese Worte unter einem Porträt Kapitän Gullivers. Dessen Reisen werden so geschildert, als hätten sie tatsächlich stattgefunden, und obwohl sie durchweg der Fantasie entsprungen sind, spiegeln sie die tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit wider. Bei »verba volant, scripta manent« handelt es sich um ein lateinisches Sprichwort: »Gesprochene Worte sind flüchtig, geschriebene Worte bleiben bestehen«. Genau so ist es, denn die Satiren Swifts sind heute ebenso wirkungsvoll wie in früheren Zeiten.
—Übersetzung von Frank Süßdorf

Anmerkung des Übersetzers: Soweit nicht anders angegeben, sind sämtliche Zitate der folgenden Ausgabe entnommen. Dies gilt auch für die auf Swift-Zitaten basierenden Lithografietitel. Quelle: Jonathan Swift: Ausgewählte Werke. Zweiter Band: Politische Schriften, herausgegeben von Anselm Schlösser, übersetzt von Gottfried Graustein, Insel Verlag, Frankfurt/Main 1982.
[1]
Jonathan Swift: Swift’s humoristische Werke. Erster Band: Vermischte prosaische Schriften, übersetzt von Franz Kottenkamp. Scheible, Rieger & Sattler, Stuttgart 1844, S. 30
[2]
Ebd., S. 38

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Prof. Dr. Leo Damrosch, US, Schriftsteller und Hochschullehrer
2001 wurde er an der Universität Harvard zum Ernest-Bernbaum-
Professor für Literatur ernannt. An der Universität Yale erwarb er
einen Bachelor of Arts, als Marshall-Stipendiat in Cambridge einen
Master of Arts und promovierte an der Universität Princeton.
Zu seinen Fachgebieten zählen Romantik, Aufklärung und Puritanismus.
Damroschs Buch The Sorrows of the Quaker Jesus gehört zu den
wichtigsten neueren Untersuchungen über die Anfänge der gemeinhin
als Quäker bezeichneten Religiösen Gesellschaft der Freunde.
Sein Werk Jean-Jacques Rousseau: Restless Genius [2005] war für
den National Book Award für Sachliteratur nominiert und gewann
2006 den L. L. Winship/PEN New England Award als bestes Sachbuch.
Zu seinen weiteren Werken zählen Symbol and Truth in Blakes Myth
[1980], Gods Plot and Mans Stories: Studies in the Fictional
Imagination from Milton to Fielding
[1985], Fictions of Reality in
the Age of Hume and Johnson
[1987] sowie Tocquevilles Discovery
of America
[2010].
Sein Werk Jonathan Swift: His Life and His World [2013] gehörte zu
den Finalisten des Pulitzerpreises für biografische Literatur und gewann
den National Book Critics Circle Award für biografische Literatur.
Seine jüngste Veröffentlichung Eternitys Sunrise: The Imaginative
World of William Blake
[2015] stand ebenfalls im Finale des National
Book Critics Circle Award für biografische Literatur.

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