Peter Hock: Morphomaniac            
5. November—3. Dezember 2016    

Peter Hock erzeugt mit seinen großformatigen Kohlezeichnungen komplexe illusionistische Wahrnehmungsräume. Den Künstler interessieren die dunklen und merkwürdigen Seiten
des alltäglichen und inneren Lebens, die sich in den Zeichnungen zu morbiden Stillleben oder rätselhaften Traumlandschaften verdichten. Im Unterschied zum 
eingefrorenen Augenblick
der Fotografie erzählen die Zeichnungen auch von ihrem langsamen Entstehungsprozess
.

 

Peter Hock — Nacht-Räume

»Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, 
dünken uns die unendlichen Augen, 
die die Nacht in uns geöffnet.« 
—Novalis, ›Hymnen an die Nacht‹ 

Die Nacht hat die Fähigkeit, die menschliche Selbsterkenntnis zu aktivieren und emotionale Erfahrungsräume zu öffnen. Sie lässt Dinge, die uns umgeben, tot und lebendig zugleich erscheinen, appelliert an sinnliche Instinkte, erinnert an existentielle Belange, umfasst Unheimlichkeit und Geborgenheit, verändert die Wahrnehmung der Umwelt und erschafft imaginäre Räume. Viele Assoziationen, die mit der Nacht in Verbindung stehen, lassen sich in Gegensatzpaaren formulieren, die auch für die Arbeiten von Peter Hock bedeutend sind: Nacht und Tag, Dunkel und Hell, Schatten und Licht, Schwarz und Weiß. Ihre zwiespältige Wirkung auf das menschliche Empfinden ist rezeptionsästhetischer Grundbestandteil der Zeichnungen. Anknüpfend an das in der Kunstgeschichte seit der frühen Neuzeit bekannte Sujet des Nachtbildes nutzt Hock dessen malerische und emotionale Effekte.

Hauptaugenmerk legt er dabei auf die grundlegendste Qualität des Mediums Zeichnung, auf die schon der kunsthistorische Mythos ihrer Erfindung hinweist: das Helldunkel, eben jenen Kontrast, der durch Schatten und Licht entsteht und den die Tochter des antiken Töpfers Butades genutzt haben soll, um das erste Bild eines Menschen anzufertigen, indem sie den Schattenriss ihres Geliebten auf eine Wand zeichnete.

Hocks künstlerische Ausdruckweise basiert auf radikaler Reduktion: Seine Utensilien bestehen aus einfachem weißen Papier als Bildträger und Reißkohle als Zeichenmittel. Hieraus entwickelt er eine opulente Bildsprache in monumentalen Dimensionen. Die vorwiegend hochformatigen, zumeist überlebensgroßen Zeichnungen halten den Betrachter zunächst auf Abstand, damit das Abgebildete erfasst werden kann. Aus der Ferne entwickelt das Dargestellte eine außergewöhnlich plastische und haptische Qualität. Die Grau- und Schwarztöne der Zeichnungen erscheinen unendlich differenziert, was zu der perspektivischen Tiefenwirkung beiträgt. Gleichzeitig schafft die fehlende Farbigkeit auch eine Distanz zu den Motiven, nimmt ihnen die Identität und abstrahiert sie. Zudem bleibt trotz der nahezu fotorealistischen Wirkung eine rätselhafte Unklarheit bestehen, die intensive Aufmerksamkeit und eine gründliche Beschäftigung mit den Werken einfordert. Der oder die Schauende wird zur weiteren Entschlüsselung angeregt, schwankt zwischen Erkenntnis und Mysterium, sodass die aktive Betrachtung zum Grundbestandteil der Arbeiten wird. In seinen Werken thematisiert Hock genau diesen Bereich der menschlichen Wahrnehmung zwischen Realität und Illusion, Wirklichkeit und Täuschung, den er mit den Nichtfarben Schwarz, Weiß und den zahlreichen Grauwerten zwischen diesen beiden Polen festhält.

In der Nahsicht kippt die illusionistische Wirkung der Arbeiten ins Flächige, kompositorischer Aufbau und perspektivischer Effekt der detailliert wiedergegebenen Materialien und Strukturen lösen sich auf, und das Handwerkliche der Zeichnung tritt in den Vordergrund. Der nun deutlich wahrnehmbare Kohlenstaub zeugt von dem Entstehungsprozess der Werke, der auch die Zeitlichkeit der Anfertigung bewusst werden lässt. Mit teils selbst angefertigten Zeicheninstrumenten für die Kohle verdichtet Hock in einem aufwändigen Werkprozess konstant die schwarzen Bereiche. Die samtigen, matten Oberflächen der nicht gefirnissten Arbeiten offenbaren das pudrige, fragile Material der Reißkohle und zeigen den erstaunlichen Variantenreichtum schwarzer Flächen. Die weißen Gebiete und Linien werden ausgespart, bleiben übrig, sodass das Papier nicht nur als Bildträger fungiert, sondern die visuelle Qualität des Materials in die Bildwirkung miteinbezogen wird.

Als Vorstufe zum zeichnerischen Werk Hocks werden eigene fotografischen Aufnahme zumeist alltäglicher Objekte im Computer bearbeitet, bis nach dem künstlerischen Filterungsprozess eine endgültige Bildvorstellung erreicht ist. Sind es mikroskopische Aufnahmen, um ein Vielfaches vergrößert? Ist es der Blick in ein unentwirrbares Dickicht aus Gestrüpp, Ästen, Metall- oder Kunststoffabfall? Aus dem schwarzen Universum des Bildraums schälen sich Formen heraus, tauchen Gebilde auf, um gleich wieder darin einzutauchen und scheinbar schwerelos zu entschwinden. Im Verhältnis zur Realität sind die Proportionen der Motive oft stark verändert. Sie können bei den Betrachtern eine Reflexion über die Beschaffenheit der Umgebung und des eigenen Zustands darin auslösen und die räumliche und zeitliche Wahrnehmung schärfen.

Bei dem Versuch, die Zeichnungen Hocks in kunsthistorische Genres einzuordnen, lassen sich Stillleben und Landschaftsdarstellungen ebenso finden wie Porträts und Alltags-Szenen, etwa wenn der Hausmüll eines Tages ein Bild seines Verursachers, seiner Lebensgewohnheiten und Abläufe gibt. Die Übergänge zwischen den Genres sind fließend und verhindern die eindeutige Zuweisung zu einem Sujet oder in eine feste Bildtradition. Es lassen sich Anknüpfungspunkte etwa an den Nouveau Réalisme finden, der das Ziel verfolgte, die Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale anzunähern. Weitere Bezugspunkte sind niederländische Jagdstillleben des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihren beliebten illusionistischen Augentäuschungen, die die Vergänglichkeit des irdischen Seins kommentierten und die Nocturnen der schwarzen Romantik, die die dunkle Kehrseite der Gedanken mit ihren nächtlichen Traumvisionen und vieldeutigen Schattengestalten thematisierten. Hock spielt mit diesem kunstgeschichtlichen Assoziationspotential und nutzt es für seine eigene Bildsprache. Unheimliches mischt sich unter das Bekannte, Erkennen und Ekel, genüsslicher Schauer und verlockender Schrecken verbindet sich mit sinnlicher Morbidität.

Zahlreiche Arbeiten Hocks wecken auch Erinnerungen an biologisch-organische Gebilde und scheinen, in der Serie betrachtet, morphologische Untersuchungen zu sein. Der Eindruck, dass die Abbildungen Teil einer wissenschaftlichen Forschungsreihe sein könnten, wird durch einige Werktitel unterstrichen. Doch kommen zu den eindeutigen, der Wissenschaftssprache entlehnten Bezeichnungen auch lautmalerische Worterfindungen, frei zusammengesetzten Begriffe und sachliche Kennzeichnungen hinzu, die die scheinbar dahinter liegende Systematik ad absurdum führen. Der durch die Nähe zur Fotografie suggerierte Wahrheitsanspruch der Werke wird unterlaufen und als Pseudowirklichkeit entlarvt.

Die Schnittstelle zwischen der detailgenauen Wiedergabe eines Objekts, dem darin verborgenen Abstraktionspotential und den Prozessen menschlicher Sinneseindrücke lotet Hock derzeit auch auf kleinerem Blattmaß aus. Vermeintlich kunstunwürdige Gegenstände werden im Medium der Zeichnung in Gebilde transferiert, deren Wirkung zwischen Abstraktion, Figuration und Illusion oszillieren und den Betrachtenden verschiedenste innere und äußere Erfahrungsräume bieten.
—Von Nadine Rottau 

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Dr. phil. Nadine Rottau
Promotion in Kunstgeschichte
Kunstwissenschaftliche Autorin & Ausstellungsmanagerin
Lebt und arbeitet in Berlin

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