Thomas Steinert Archiv

Katastrophenschutz
Thomas Steinert hat das Lebensgefühl in der DDR während der letzten beiden Jahrzehnte in Bilder gebannt. Seine dokumentarischen Fotografien sind noch zu entdecken. Ein Besuch in Leipzig.

Das Haus mit den eingeschlagenen Fenstern ist zur Sprengung vorbereitet. Da tritt ein junger Mann in Jeans und Frack auf den baufälligen Balkon und beginnt auf der Geige zu spielen. Schulkinder bleiben stehen und recken die Köpfe über ihren riesigen Ranzen in die Höhe. In einer Szenerie des Verfalls entfaltet die Musik ihren Zauber. Solche Szenen werden aus den Ruinenlandschaften deutscher Städte nach dem zweiten Weltkrieg berichtet, als Kunst über das Trauma der Zerstörung hinweghalf, indem sie an eine andere Welt erinnerte. Den jugendlichen Musikstudenten hat Thomas Steinert jedoch 1976 auf dem Nachhauseweg im Stadtteil Connewitz im Süden von Leipzig fotografiert. In den leer stehenden Wohnbauten durfte die Hochschule für Grafik und Buchkunst Studenten unterbringen, bis sie abgerissen wurden. Maler, Schriftsteller und Lebenskünstler zogen ein, das Viertel wurde schnell zum Zentrum der Leipziger Boheme. Steinert besuchte die Fotoklasse, blieb nach dem Diplom 1977 hier, war als Nachkriegskind mit Geburtsjahr 1949 nicht verwöhnt, wohnte in feuchten Kellern, flickte kaputte Dächer und fotografierte, was um ihn herum geschah. Maler ebenso wie Ballett-Tänzerinnen und Wohnungsbesetzer. Als Gerd Harry Lybke mit ein paar Kollegen um die Ecke die private Galerie Eigen+Art eröffnen wollte, half er mit. Der spätere Stargalerist arbeitete noch als Aktmodell und trat bei der Einweihung nackt in einer Performance auf. Steinerts Aufnahmen von Lybke in Rastalocken und halboffenem Bademantel wurden weltbekannt.

»Das gibt es heute alles nicht mehr. Kurz vor Ende der DDR sind in einer Nacht- und Nebelaktion die Panzer der Nationalen Volksarmee aufgefahren und haben die alten Häuser mit Seilen und Ketten umgerissen«, sagt Steinert ohne jede Nostalgie. Er versinkt in den Ohrensessel und nippt an der DDR-Cola mit dem Namen Vita, die wieder schick geworden ist und mit weniger Koffein produziert wird. Die Dachwohnung liegt in einem sanierten Hinterhof mit alten Bäumen. Die ehemaligen Textilfabriken am Wasser ein paar Strassen weiter werden zu Lofts umgebaut, die trotz vieler freier Wohnungen heiss begehrt sind. In den engen Zimmern drängen sich Schränke und Regale voller Abzüge und Negative. »Die meisten Fotos habe ich mit einer alten Pentacon-Six gemacht. Wenn man abdrückte, war anfangs der Spiegelschlag so stark, dass die Kamera wackelte«, erzählt er. Als Steinert sie 1968 kaufte, hatte er gerade in einem Bergbau- und Hüttenkombinat Werksabitur gemacht und sein erstes Geld verdient. »Ich kam von einem kleinen Dorf und war in dem Betrieb isoliert, Fotografie war für mich eine Möglichkeit, in eine andere Welt zu kommen.«

Er hörte von der Hochschule in Leipzig, bewarb sich, wurde zum Armeedienst eingezogen, und arbeitete sich hinterher durch die Fotografiegeschichte. Paul Strands Naturfotografien faszinierten ihn, er probierte Gummidrucke, Fotomontagen, Fehldrucke und Warhol-Verschnitte und fotografierte Akte, Landschaften, Interieurs und Fabriken. Mal erscheint die Welt in konstruktiver Beschleunigung, dann in neusachlicher Distanz und mit surrealistischer Komik. Aber Steinert merkte schnell, dass er nicht die künstlerische Versuchsanlage eines Man Ray braucht. Ein nächtlicher Blick aus der Wohnung genügte: Da liegt ein Betrunkener auf der Strasse wie die abgeschütteten Briketts auf der Baubrache daneben. Der Passant, der sich über ihn beugte, ist als Schemen vorhanden, so elektrisch wie die Lichtspuren, die ein vorbeifahrendes Auto über das Kopfsteinpflaster gezogen hat, als wäre jemand von Outer Space zu Besuch gewesen.

Steinert bewahrte den Alltag im Bild. Er fotografierte die »Puhdys«, die in den siebziger Jahren angesagteste Pop-Band des Landes, und das Politbüro beim Messebesuch in Leipzig. Er hielt die Pseudodekadenz in der Nackttanzbar »Haus Connewitz« fest, auf die westliche Messebesucher scharf waren. Und er hatte einen Blick für Gebrauchsikonen, in denen sich die Gesellschaft spiegelte. In den Stahlrohrgestängen der Kinderspielplätze fand er die Hässlichkeit des realsozialistischen Alltags, in den Strassenlampen, die durch Neo Rauchs Gemälde irrlichtern, seine fehlgeschlagene Hoffnung. »Ihr futuristische Design war einmal Inbegriff einer kommunistischen Zukunft, die so stromlinienförmig und glänzend sein sollte wir diese Lampen«, sagt Steinert. Er fotografierte sie ebenso ausgiebig wie die öffentlichen Reinigungsbäder, die verfielen, und die Friedhöfe, die von vielen als Rohstofflieferant genutzt wurden.

Aber Steinerts Bilder sind weit mehr als dokumentarische Aufnahmen. Er ist auch kein Milieufotograf, zu dem ihn eine Publikation machen will, die 2006 zu einer Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig erschienen ist. Er wälzt keine Lebenswelten breit, um knietief darin zu versinken. Die Männer und Frauen, die vor einem Rechenzentrum auf die Strassenbahn warten, zeigt er in ballettartiger Grazie als städtisches Tableau eines existentiellen Wartens à la Samuel Beckett. Das Mädchen, das im kurzen Rock auf einem Motorrad liegt und vor einem Jungen eine Hohner-Klarinette spielt, ist eine ewige Lolita, die alle Umstände von sich abstreift. Subtil, fast beiläufig hält Steinert fest, wie Ansprüche, Überzeugungen, Erklärungen sich verschieben, brüchig werden, die Realität nicht mehr berühren.

Neben einer russischen Kaserne in Eberswalde hat er 1985 Breker-Statuen fotografiert, die die Soldaten der Roten Armee mit Goldbronze gestrichen, vor ein Transparent mit olympischen Ringen gestellt und mit Piktogrammen von Otl Aicher umgeben haben. Der Nazi-Bildhauer, der Schwager der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl und die kommunistischen Kriegsgegner sind für eine Sportfeier auf einem Fussballplatz in der Provinz zu einer Collage gefügt, die Deutschlands schmerzhafte Geschichte im 20. Jahrhundert versinnbildlicht.

Präziser als Evelyn Richter, Arno Fischer, Günter Rössler und andere in West und Ost hoch gehandelten Starfotografen der DDR hält Thomas Steinert solche Zwischenlagen fest. Als alle spürten, dass die Gesellschaft sich auflöste, aber noch niemand dafür Begriffe fand, sah er in kleinen Gesten den Ansatz zu großen Veränderungen. Wer etwas über die Atmosphäre der letzten beiden Jahrzehnte der DDR erfahren will, wer die Gemengelage aus Bildern und Gefühlen, Sehnsüchten und Frustrationen kennenlernen will, denen die Menschen ausgesetzt waren, muss diese Bilder anschauen. Da hat sich einer so weit an den Rand gebracht, bis er Situationen, Zeichen, Stimmungen in den Blick bekommen konnte, die die anderen nicht sehen wollten. Die jungen Produktionsarbeiterinnen auf dem Wagen der Telefonfabrik »VEB RFT Leipzig«, die beim Umzug zum 20. Geburtstag der DDR 1969 fröhlich Telefone schwenken, sagt mehr über das Leben damals aus als mancher Roman. Wie muss es Menschen gehen, denen man das Telefon als technische Errungenschaft vorführt und gleichzeitig vorenthält, während die Welt um sie herum es selbstverständlich gebraucht? Was für eine Fröhlichkeit kann das sein, die diese Situation als Fortschritt bejubelt?

Fotografie soll in der Aufgabenstellung der DDR-Ästhetik den heroischen Einsatz für den Aufbau des Sozialismus und das Kollektiv feiern. August Sander gilt als Vorbild. Steinert fotografiert sowohl Berufsgruppen wie das Kollektiv. Es wäre sicherlich verfehlt, ihn als konzeptuellen Fotografen zu bezeichnen. Er wollte nie durch die Welt reisen und Fördertürme frontal und in neutralgrauem Licht fotografieren wie Bernd und Hilla Becher in Düsseldorf. Er hat auch nicht gängige Massengenres aufgegriffen und härter interpretiert wie ein Thomas Ruff mit seinen Blow-ups von Studienkollegen. Aber es gibt durchaus Parallelen. »Wir kannten natürlich, was im Westen gemacht wurde. Die Fotozeitschriften lagen in der Hochschule aus«, sagt Steinert. Aber er wollte weicher mit Situationen umgehen. Die Putzfrauen in den Badeanstalten, der Tabakverkäufer, die Kinder, die Buntmetall sammeln, das Paar im Altersheim, die Bockwurstverkäuferinnen, der Aushilfskellner, die Bohemiens und die vielen Arbeiter in Landwirtschaft und Industrie formieren sich zu einem Gesellschaftsbild, weil Steinert sie in ihrer Umgebung, in der Geschichtlichkeit des Augenblicks porträtiert.

Und das Kollektiv rutscht bei ihm in den Rausch, der alle erfasste und über den keiner sprach. »Alkohol gab es immer, auch wenn die Regale für Gemüse und Fleisch leer waren«, erinnert er sich. Die Mitarbeiter der Kohlenhandlung Lankewitz formieren sich vorm Ausflug zum Männertag vor dem LKW zum Gruppenporträt. Studenten der Baumhochschule singen 1987 mit Gläsern in der Hand vor ihrem Ausflugswägelchen. Und die Karnevalsgesellschaft im Connewitzer Klubhaus »Erich Zeigner« ist promillemüde und aufgekratzt selig. Eine Frau lacht über die Männerhände auf dem eigenen Busen, die halbnackten Revuegirls schauen so abgeschwitzt zufrieden drein, als hätten sie gerade als Zehnjährige ihre erste Ballettaufführung hinter sich.

»Das sind keine Fotos für die Parteizeitung«, sagt Steinert, aber als Kritik am System waren die Aufnahmen lange Zeit nicht gemeint. »Ich dachte, ich halte das fest, damit wir später sehen, wovon wir uns gelöst, was wir alles geschafft haben.« Seine Bilder zeigen, wie die Volkskultur sich mit dem Sozialismus durchmischte, wie die Phantasie von einer besseren Zukunft, die jede Gesellschaft träumen möchte, im Realen Sozialismus ankam und scheiterte. Das Leben ist bis in die Freizeit kollektiv organisiert, für individuellen Rückzug ist in den kleinen Wohnungen der Plattenbauten, die derzeit im Leipziger Stadtzentrum auf ihren Abbruch warten, kein Platz. Aber die Gemeinschaft ist für ein Volksfest gut. Steinert zeigt, wie die Mädchen beim Turnfest ihre Röcke heben. Der Soldat der nationalen Volksarmee sitzt sonntags uniformiert im Biergarten.

Die Funktionäre haben Steinert diesen nüchternen Blick an keinem Ort verziehen. In der Dusche der Stahlgießerei, in der er zwei Jahre arbeitete, sah er die SS-Nummern in den Achselhöhlen mancher Werktätiger. Er wurde als Springer eingesetzt und erhielt weniger Lohn. An der Hochschule in Leipzig behielten die Lehrer seine Arbeiten für Unterrichtszwecke ein. Zu seiner Diplomprüfung erschienen sie mit Eisbechern in der Hand und bewerteten ihn so schlecht, dass er keine Anstellung fand und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten musste. »Ich habe von Plattenbauten einige der hässlichsten Postkarten der Welt gemacht«, sagt er. Als er zu einer Ausstellung eine seiner düsterfarbigen Collagen einreichte, auf der er vorne eine rote Suppe auslöffelt, während hinten eine Leninstatue abtransportiert wird, wurde das Bild erst gar nicht aufgehängt.

Als die Wende kam, recherchierte Steinert ein tausend Seiten starkes Buch über die Lebenswege Friedrich Nietzsches, das noch ungedruckt liegt, und dokumentierte verwandte Mentalitäten. Da stehen Autonome am Bahnhofszaun und pinkeln nach einer Demo durch die Gitterstäbe. Der NPD-Vorsitzende Franz Schönhuber glaubt, mit Sonntagsphrasen bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen unbedarfte Ossis gewinnen zu können. An den verfallenden Hinterhoffassaden der Ernst Thälmann-Strasse sind erste Satellitenschüsseln befestigt. Von der Wand des Messepavillons der UdSSR lächelt Gorbatschow 1991 über ausgeräumten Schubladen und einem einsamen Telefon auf dem Boden. Das alte geht, das neue kommt, der Fotograf bleibt skeptisch. Auf einer Winterstrasse 1990 ist ein Transporter voller Umzugskrempel mit der alten Aufschrift »Katastrophenschutz« beschrieben. Der Aufbruch ist gescheitert, noch bevor er begonnen hat.

Die Auf- und Umbrüche der Gegenwart, den Alltag der Globalisierung müssten andere, jüngere als er fotografieren, sagt er: »Die bringen eine andere Erfahrung und einen anderen Blick mit, die sind näher dran.« Ein Bild möchte er aber noch machen. In Wittgensdorf, nahe dem Dorf, in dem er selbst aufwuchs, lebt der Karikaturist Henry Büttner, der mit spitzem Strich in der Zeitschrift »Eulenspiegel« den Alltag in der DDR begleitet hat. »Er hat in diesem kleinen Dorf ausgehalten und seine eigene Welt dagegen behauptet, und er hat sich nie fotografieren lassen«, sagt Steinert. Ein Porträt des bald 80jährigen wäre vielleicht Bekenntnis und Abschluss einer Epoche zugleich: Ein Sinnbild für Widerstand, der sich gegen die Beharrungskräfte der Normalität richtet, die Kreativität genauso lähmen können wie ein repressives gesellschaftliches System. Doch dann holt Steinert noch eine »Liste« mit bisher unrealisierten Projekten hervor und träumt sich für einen Lidschlag weg. Es gäbe noch viel zu tun.
—Von Gerhard Mack
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Dr. Gerhard Mack, Redakteur für Kunst und
Architektur bei der ›Neuen Zürcher Zeitung‹.
Kunstkritiker für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften,
u.a. ›Cash‹, ›Süddeutsche Zeitung‹ und ›art‹. Verschiedene
Publikationen zu Architektur, Kunst, Literatur und Theater,
Œuvres complètes Herzog & de Meuron sowie Monografien
zu Hans Josephsohn und Rémy Zaugg.
In der ›art‹, 02/2008, hat er ein ausführliches Künstlerporträt
mit den Titel Endzeitrevue über Thomas Steinert geschrieben.

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