Thomas Steinert Archiv

Wir sehen uns selbst
Thomas Steinert hat in rund 1 000 Aufnahmen den Lebensweg des Philosophen Nietzsche abgelichtet. Zum f/stop Festival für Fotografie [2016] zeigt er nun eine Auswahl.
 
Es begann in Karl-Marx-Stadt. Ausgerechnet dort. In einer Stadt, die ihren Namen einem Philosophen des 19. Jahrhunderts verdankte, mit dem viel Staat zu machen war, kam Thomas Steinert in den 60er Jahren auf den Philosophen, mit dem kein Staat zu machen ist. Im Gegenteil. Friedrich Nietzsche [1844-1900], der Alles-Hinterfrager, ist ein Denker, der einem den Staat auf die eigene Spur lenken kann, weil man plötzlich als politisch und geistig unzuverlässig, ja tendenziell gefährlich gilt. So erging es Steinert in der DDR.

1949 in Burgstädt bei Chemnitz geboren, das 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde, durchlief Thomas Steinert in Freiberg eine Ausbildung zum Metallhüttenfacharbeiter mit Abitur. Nicht, weil er ein großes Herz für das Hüttenwesen besäße, sondern weil diese Ausbildung die einzige Chance war, dem Dorf zu entkommen. In die weitere Welt hinein, zu der auch Karl-Marx-Stadt gehörte.

Immerhin besaß die Bezirksstadt eine christliche Buchhandlung, die eine antiquarische Abteilung führte. Und in der war ab und an für gute Kunden ein altes Buch des unerwünschten Philosophen zu haben. Auf die Händlerfrage, welchen Nietzsche-Titel er denn suche, antwortete Steinert: »Ich nehme jeden«. Damit war er runter von der Warteliste, bevor er drauf war. Nietzsche wurde er nicht mehr los.

Von 1972 an studierte Steinert Fotografie an der Leipziger Kunsthochschule. Seine theoretische Abschlussarbeit widmete er dem Thema ›Fotografie und Wahrheit‹. Ein Zitat Nietzsches arbeitete er ein: »Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht ›wollen‹.« In DDR-Klartext übersetzt: Für Propaganda, welchen Grades von Kunstfertigkeit auch immer, steht dieser Fotograf nicht zur Verfügung.

Das hatte man in Leipzig begriffen: Steinert bekam keine Anstellung, in Folge dessen keine Wohnung. Er schlug sich später als Postkartenfotograf durch – und wurde doch, was er heute ist: einer der eigenständigsten deutschen Fotografen der Gegenwart. Und einer der eigenwilligsten.

Ende der 80er Jahre begann der Wahl-Leipziger Lebensorte Friedrich Nietzsches zu fotografieren. Und sich das Werk des Philosophen zu erschließen, der in Röcken bei Lützen geboren wurde und in Naumburg aufwuchs. Ein von Mitteldeutschland aus nach Süden reisender und denkender Philosoph, dessen Spuren Steinert nach 1989 auch bis nach Italien folgen konnte. Rund 1 000 [!] Schwarzweißfotografien entstanden auf diesen Fahrten. Bilder, von denen ein kleiner Teil bereits in der 2009 in Zeitz gezeigten Dionysos war hier–Folge über den Vormärz-Dichter Ernst Ortlepp öffentlich geworden war. 2013 zeigte er im Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg 60 Arbeiten aus dieser Reihe. Nun sind zum f/stop Festival für Fotografie in Leipzig ausgewählte Fotografien aus diesem Zyklus zu sehen.

Vom Treppenhaus des Geburtshauses in Röcken an zeigt Steinert Aufenthaltsorte des Philosophen: Schulpforte, Leipzig, Bonn, Sils Maria, Venedig, Monte Carlo. Malerische Standbilder voll von Energie, die auch die Energie der Menschen ist, die durch all diese Landschaften, die Häuser und Wohnungen zogen. Was wissen die Häuser?, fragt man sich. Was heben sie auf, von denen, die in ihnen lebten?

Steinert, der als Fotograf eine Art Privatgelehrter in Sachen Nietzsche ist, liefert neben den sachlichen Hinweisen zu seinen Fotografien jeweils auch Zitate des Philosophen, die das Gezeigte erklären oder von diesem aus fortdenken. So ist es ein großes Vergnügen, den stets überraschenden Szenen und Objekten Steinerts sowie gleichermaßen den Denkpfaden Nietzsches zu folgen.

Was wissen die Häuser? Was die Landschaften? Und wenn wir auf diese blicken: Über wen erhalten wir Auskunft? Nur über uns selbst, meint Nietzsche, aus dessen Götzendämmerung Steinert zu einem Bild aus dem Schweizer Rosenlauital zitiert: »Es war Abend, Tannengeruch strömte heraus, man sah hindurch auf graues Gebirge, oben schimmerte der Schnee. Blauer beruhigter Himmel darüber aufgezogen. – So etwas sehen wir nie, wie es an sich ist, sondern legen immer eine zarte Seelenmembrane darüber – diese sehen wir dann. Vererbte Empfindungen, eigene Stimmungen werden bei diesen Naturdingen wach. Wir sehen etwas von uns selber – insofern ist auch diese Welt unsere Vorstellung. Wald, Gebirge, ja das ist nicht nur Begriff, es ist unsere Erfahrung und Geschichte, ein Stück von uns.«
—Von Christian Eger

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Christian Eger ist Kulturredakteur
bei der Mitteldeutschen Zeitung [MZ]
in Halle an der Saale.
Er erhielt 2012 den Journalistenpreis
des Deutschen Kulturrates.
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