Thomas Steinert: Dionysos war hier
17. Januar—7. März 2009

There is the rub! Der Leipziger Fotograf Thomas Steinert zeigt in seinen s/w Fotos die letzten Orte des Dichters Ernst Ortlepp. Damit liefert Steinert auch einen kleinen Beitrag zum 600–Jahre Jubiläum der Universität Leipzig, indem er Ortlepp, der hier studierte, zum Thema seiner Ausstellung macht.

Ernst Ortlepp [geboren 1800 in Droyßig bei Zeitz, gestorben 1864 bei Schulpforte] war ein Dichter des deutschen Vormärz. Er kam als Sohn eines evangelischen Pfarrers auf die Welt. Im Alter von 12 bis 19 Jahren wurde er an der Landesschule in Schulpforte unterrichtet, danach studierte er Theologie und Philosophie an der Universität Leipzig [1819–1824]. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ging Ortlepp abermals nach Leipzig, wo er sich einen Ruf als politisch engagierter Dichter erarbeiten konnte. Zu seinen wichtigsten Werken gehörten die Polenlieder mit dem berühmten Vers noch ist Polen nicht verloren. In jener Zeit machte er auch Bekanntschaft mit Richard Wagner [Johann Wolfgang von Goethe lernte er wenige Jahre zuvor kennen]. Ortlepps kritische Zeilen in Fieschi veranlassten Metternich, dieses Gedicht verbieten zu lassen. 1836 fiel er endgültig in Ungnade und musste Leipzig den Rücken kehren. Im Zeitraum zwischen 1837 und 1853 hielt er sich in Württemberg auf. Damals lebte er vor allem von seiner Tätigkeit als Verleger und Übersetzer. Im Revolutionsjahr 1848 versuchte er mit seinem Werk Germania eine Art deutsches Nationalgedicht zu schaffen. Seit 1853 wohnte der mittlerweile verarmte Ortlepp wieder in seiner alten Heimat. Nach dem gescheiterten Versuch, 1856 Lehrer an einer höheren Schule zu werden, rutschte er noch tiefer ins soziale Abseits. Er kam nun wiederholt mit der Justiz in Konflikt und musste um 1860 mehrfach in der Landarmen- und Korrektionsanstalt im Zeitzer Schloss Moritzburg Gefängnisstrafen absitzen. In den letzten Jahren vor seinem Tod hielt er sich oft an seiner alten Schule auf, wo er mit einigen Schülern be-freundet war. Zu diesen gehörte Friedrich Nietzsche, den Ortlepp in mehrfacher Hinsicht geprägt haben soll.

Ernst Ortlepp, gescheitertes Genie, Dichter, Übersetzer, ehemaliger Pfortenser – bewundert von den Schülern in Pforta – hat einen wichtigen Platz in der engagierten Dichtung des 19. Jahrhunderts. Er war, Der Erste, der der politischen Poesie wieder Bahn brach, wie in einem autobiographischen Text zu lesen ist. Für ihn waren die Ideen Luthers zeitgenössisch und in seinem Werk finden sich Reflexe des Denkens der Junghegelianer. Standardwerke der europäischen Literaturen aus einem Zeitraum, dessen Grenzen durch die Namen Giovanni Boccaccio, William Shakespeare und Lord Gordon Byron markiert werden, übertrug er ins Deutsche.

There is the rub! Schrieb der polyglotte, freiheitsliebende, aber über „den begrabenen Hund“ stolpernde Sachse Ernst Ortlepp in seiner Vorrede zu den Schillerliedern [von Goethe, Uhland, Chamisso Rückert, Schwab, Seume, Pfizer und Anderen], die er 1839 in Stuttgart herausgegeben hat.  
                    
Thomas Steinert kommende Ausstellungen:                                          
Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig
   »Carte Blanche VI: VNG« 4. April—7. Juni 2009              
Kuratiert von Frank-Heinrich Müller mit Ilina Koralova, mit: Matthias Hoch, Frank-Heinrich Müller, Evelyn Richter, Hans-Christian Schink, Erasmus Schröter, Thomas Struth, Anett Stuth u.a. Ihre Arbeiten zeigen nicht nur die Veränderungen der Bauten, Städte und Landschaften, sondern führen auch einen Wechsel im Bild der Gesellschaft vor.                                                                                                                                    
Kunstverein Eislingen
   »War das ein Leben—hinter dem Eisernen Vorhang« 24. April—24. Mai 2009
Mummery + Schnelle Gallery, London
   »War das ein Leben—behind the Iron Curtain« 4. Mai—13. Juni 2009

 

Vorwort von Christian Eger zum Buch »Dionysos war hier«
Zu Ortlepp kam er über Nietzsche: Ende der achtziger Jahre begann Thomas Steinert, die Lebensorte des Philosophen zu fotografieren. Eine Tätigkeit, die dem Leipziger half, das geistige Vakuum der letzten DDR- und ersten Nachwende-Jahre zu füllen. Rund 1000 Schwarzweißfotos entstanden solcherart, darunter Bilder der alten Landesschule Pforta, in der Nietzsche um 1860 erstmals dem um 44 Jahre älteren Ernst Ortlepp begegnete dem Vormärzschriftsteller, der einer der ersten politischen Dichter Deutschlands war. Als Obstbaumhüter hatte es den vielfach verfolgten Autor zurück an den Ort seiner Jugend verschlagen.

Die Begegnung des Schülers Nietzsche mit dem alten, nunmehr obdachlosen Ortlepp hält Steinert für ein Grunderlebnis des künftigen Philosophen. Wie man sich selbst wappnen müsse, um in der Welt zu bestehen, das habe Nietzsche an Ortlepp begriffen, der von der »Naumburger Tugend« verachtet wurde, vor deren Augen er buchstäblich zugrunde ging. An der Gestalt dieses Dichters sei Nietzsche zum Psychologen geworden. Ohne Ortlepp kein Nietzsche, das ist Steinerts Formel.

Ein Künstler mit brüchiger Werkbiografie ist Thomas Steinert selbst: 1949 bei Chemnitz geboren, durchlief er in Freiberg eine Berufsausbildung mit Abitur zum Metallhüttenfacharbeiter, um von 1972 bis 1977 Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu studieren. Ausgeschlossen vom Kunstbetrieb, hielt sich Steinert als Betriebs- und Postkartenfotograf über Wasser. Heute zählt Steinert zu den bedeutendsten ostdeutschen Fotografen, dessen Kunst in dem 2006 im Leipziger Lehmstedt Verlag veröffentlichten Bildband »Connewitzer Welttheater« erstmals für die Allgemeinheit sichtbar wurde. Ein illusionsloser Realismus waltet in den Bildern, der Züge ins melancholisch Komische aufweist. In Ortlepps Lebenstragik spiegelt Steinert seinen eigenen Weg als Künstler. Vor allem in seinem Scheitern, sagt er, sei ihm der Dichter nahe.

Dionysos war hier: Der Titel dieses Buches stammt von Steinert selbst. Dionysos, der Gott des Weines, des Rausches und der Fruchtbarkeit, der Künstlergott, der nicht der Gott der Künste ist. 1871 erkannte Nietzsche im Dionysischen das Prinzip des schöpferischen Lebens, der großen weltlichen Bejahung. Dionysisch handeln, das verlange, dem eigenen Willen, den eigenen Begriffen zu folgen. Man muß Chaos in sich haben, um einen Stern zu gebären, schrieb Nietzsche.

Eine Vielzahl von literarischen Sternen gebar Ernst Ortlepp. Im Jahr 1800 in Droyßig bei Zeitz gebo­ren und 1864 bei Pforta tödlich verunglückt, war er zeitlebens ein tapferer, durchaus dionysischer Charakter: wagemutig und sinnenfreudig. Allen Berufs- und Aufenthaltsverboten zum Trotz: Immer zeigte sich Ortlepp als ein engagierter Schriftsteller, der hinschrieb auf eine Gesellschaft der mündigen Bürger. Bei alledem war der studierte Theologe kein Atheist. Dichtersprache war für Ortlepp göttliche Rede, auch das ein dionysisches Element.

Thomas Steinert zeigt in Wort und Bild die Lebenslandschaft Ortlepps. Und mit dieser die Gegenwart der Vergangenheit, was heißt: Der Dichter ist verschwunden, seine Orte wirken wie gerade erst von ihm verlassen. Wir sehen das Gasthaus »Saalhäuser«, in dem Ortlepp: »dämonische Lieder« gesungen haben soll. Die Musengrotte bei Naumburg, die dem Obdachlosen ein Nachtlager bot. Den Wassergra­ben hinter Almrich, in dem der Dichter sein bis heute rätselhaftes Ende fand. Landschaft, hingebreitet zur Lektüre, in deren Mulden und Mauern die Gegenwart Ortlepps lagert.
Thomas Steinert macht sie sichtbar in diesem Buch.
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Christian Eger ist Kulturredakteur
bei der Mitteldeutschen Zeitung [MZ]
in Halle an der Saale.
Er erhielt 2012 den Journalistenpreis
des Deutschen Kulturrates

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